Die ungeistige Lage der Dinge

“Stichworte zur ´Geistigen Situation der Zeit´”, so hießen zwei 1979 erschienene Bände in der berühmten klein geschriebenen Reihe “edition suhrkamp”, in der mit Jürgen Habermas als Herausgeber die linke deutsche Elite darum wetteiferte, die Naturwissenschaften links liegen zu lassen. Habermas ließ nahezu alles abhandeln – Literaturwissenschaft, den lieben Gott, das moderne Theater, die schicken Nierentische, den Neo-Korporatismus und was auch immer, nur die Naturwissenschaften mit ihrer Gentechnik, ihren Atomtheorien, ihren Einsichten in das Chaos, ihren Algorithmen und ihren verschalteten Transistoren nicht. Kein Wort dazu. Ihren Gefolgsleuten wurde einfach nichts Geistvolles zugetraut, und dieses geistlose Vorgehen hat sich in diesen Tagen wiederholt. Erneut bei Suhrkamp – diesmal groß geschrieben – ist “eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit” erschienen, die sich “Die große Regression” nennt und es trotz des naturwissenschaftlichen Titelbegriffs schafft, auf mehr als 300 Seiten kein Wort über Smartphones und die digitale Revolution zu verlieren und natürlich auch keinen Hinweis auf die neuen Methoden der Biologie beim Umgang mit Stammzellen und zum Genediting enthält.

Wer sich wundert, woher diese blasierte Art des Übersehens und Übergehens kommt, kann zum Beispiel fündig werden in dem Buch “Jetzt”, das von dem 1932 geborenen Literaturwissenschaftler und Kritiker Karl Heinz Bohrer stammt und verspricht, die “Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie” zu erzählen. Bohrer fabuliert flott und erweist sich als begnadeter Rabulist, der vor allem seinen Kollegen zeigen möchte, was er drauf hat. Nach vielen hundert Seiten drückt sich Bohrer dann aber plötzlich ganz einfach aus, und zwar in dem Augenblick, in dem er seine Verachtung für die Naturwissenschaften los werden möchte (S. 476). Ein Experiment in den Naturwissenschaften ödet ihn an, und zwar deshalb, “weil es nichts mit mir zu tun hat”, wie er, der Geisteswissenschaftler, eine Zeile später wiederholt, damit auch der Dümmste klar sieht: die hohe Kultur der Geisteswissenschaften hat nichts mit dem blöden und langweiligen Zeug der Naturwissenschaften zu tun, und wer anders denkt, rennt nur einer Mode hinterher und fürchtet, ihm oder ihr könnten irgendwelche Felle wegschwimmen. So der Literaturkritiker, der durch seine Ansicht nur zu erkennen gibt, was wirklich “Jetzt” ist und liefert, nämlich eine ungeistige Situation zur Unzeit. So viel Einseitigkeit und Einfältigkeit macht traurig. So viel Intelligenz – schmählich vertan, und von Bildung keine Spur. Bohrer platzt vor Stolz, wenn er seinen Gegenspielern im Leben seine profunden Kenntnisse der Romantik um die Ohren hauen kann, aber er scheint nicht zu wissen, dass die Nacht der romantischen Literatur sich vor allem dem Licht der aufgeklärten Physik verdankt und beide Kulturströmungen wunderbare Bewegungen hervorbringen. Mindestens jetzt und damit hat die Schwerkraft etwas mit dem Bohrer höchst selbst zu tun. Vielleicht muss er plötzlich einmal kräftig auf die Nase fallen, um das zu merken. Ich kann ihm versichern – es geht auch angenehmer. Man muss das Organ des Riechens nur etwas niedriger tragen und den Leuten, die die Naturwissenschaften lieben und zur Bildung zählen, in die Augen schauen zu zuhören. Unsere Zukunft hängt von ihnen ab.


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