Dialektik der Aufklärung 2.0

“Dialektik der Aufklärung” – so lautet natürlich der berühmte Titel des berühmte Werks der berühmten Sozialphilosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, in dem sie sich 1944 darüber wunderten, wie eine aufgeklärt scheinende Menschheit sich so viel Leid antun konnte, wie es das 20. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg erleben musste. Horkheimer und Adorno meinten zu Beginn ihrer “Philosophischen Fragmente”, das Programm der Aufklärung sei die Entzauberung der Welt gewesen, und in solch einer Welt ohne Geheimnisse habe der gefühllos gewordene Mensch zu wüten angefangen.  Ihm war schließlich nichts mehr heilig.

Nun gehört zu den Irrtümern von Sozialwissenschaftlern, von den Naturwissenschaften anzunehmen, dass sie die Geheimnisse der Dinge wegerklären, und sie nehmen bis heute nicht zur Kenntnis, dass das Gegenteil der Fall ist und wissenschaftliche Erklärungen jedes Geheimnis der Welt vertiefen. Da wird nichts ent-, dafür aber fast alles verzaubert, und tatsächlich nimmt mit dem Wissen der Menschen das Dunkel um sie herum und vor ihnen zu. Je mehr das Leben von Menschen von dem Wissen abhängt, das sie haben, desto weniger wissen sie, wie sie in Zukunft leben werden, wie Karl Popper erläutert hat. Mit anderen Worten, die schwarze Wand der Zukunft kommt näher, und wer aufmerksam die Zeitung liest, wird merken, dass uns immer mehr Dunkelheit umgibt. Der Himmel ist voller Dunkelenergie und Dunkelmaterie, das menschliche Genom steckt voller Dunkelbereiche, also voller Abschnitte, die den Genetikern völlig rätselhaft sind, das britische Fachblatt Nature weist in einer seiner letzten Ausgaben (vom 7. Februar 2019) auf eine “Dark Chemistry” hin, die paradoxerweise durch die Datenbanken zustande kommt, mit  denen versucht wird, einen Überblick über die Moleküle im “Chemischen Universum” zu finden, und einer Menschheit, deren Historiker die Gegenwart ohne die Entwicklung der Naturwissenschaften beschreiben, muss die eigene Geschichte wie ein Schwarzes Loch erscheinen.

Insgesamt kann man ein “New Dark Age” feiern, ein neuer Zeitalter der Dunkelheit, wie der Brite James Bridle in seinem Buch mit diesem Titel schreibt (London 2018), in dem klipp und klar zu lesen ist, dass das, was gedacht war, die Welt aufzuklären (zu erhellen), sie tatsächlich dunkler gemacht hat. Wie soll es auch anders sein? Mit dem Licht sieht man schließlich besser, was im Dunkel ist. Dort ist ja nicht nichts, sondern etwas, das sich zeigt, auch wenn es voller Geheimnis bleibt. Als die Aufklärung vor zweihundert Jahren zu Ende ging, kam die Romantik. Mit ihr geriet die alte Welt in Bewegung. Der neuen passiert das heute wieder. “Die Zukunft ist dunkel”, meinte Virginia Woolf bereits im Januar 1915, als in einer dunklen politischen Gegenwart, “und das ist das beste, was ihr passieren kann”, wie die Schriftstellerin hinzufügte.  Die Welt ist offen, wie damals. Die Freiheit des Menschen bleibt unbegrenzt. Der Dialektik der Aufklärung sei dank. Gehen wir auf die Dunkelheit zu und werfen unser Netz aus. Wir werden schon etwas fangen und damit anfangen.


Dieser Beitrag wurde auch auf ScienceBlogs veröffentlicht.

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