Leben lassen

Meine Mutter hat die Wäsche noch selbst mit ihren Händen gewaschen. Wir heute lassen sie in einer Reinigung sauber machen. Als Jugendlicher habe ich noch selbst Kartoffelsalat gemacht. Heute bestellen wir ihn beim Partyservice. Als Student habe ich noch selbst die Daten von Experimenten berechnet und in Diagramme eingetragen. Heute lassen wir das von Programmen erledigen. Als wissenschaftlicher Assistent habe ich noch selbst die Journale gelesen, um den Stand der Forschung zu kennen. Heute bieten alle möglichen Leute Lesehilfen an, die Veröffentlichungen nach Stichworten scannen und auswerten. Wir lassen lesen. Das „Machen lassen“ ist ein Trend, der sich auch in persönlichen Gefilden zeigt. In den 1960er Jahren sind Soziologen auf die Idee gekommen, dass Eltern (ohne pädagogische Ausbildung) ihre Kinder nicht mehr erziehen, sondern von besonders gut geschulten Kräften erziehen lassen. Wir lassen alles machen und machen nichts mehr selbst. Wir lassen uns auch unterhalten, und unterhalten uns selbst kaum noch. Wir lassen uns gesund machen und verbuchen und haben längst vergessen, dass es möglich ist, etwas wie früher selbst zu machen. Irgendwann geben wir dann auch auf, selbst zu leben. Wir lassen leben, was viele längst tun. Und eines Tages versteht niemand mehr den Titel des James-Bond-Films, „Leben und leben lassen“. Dann kann man es auch lassen, sich lieben zu lassen.

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