Ein Experiment zur Physik ohne Experimente

Im neuen Jahr fängt man am besten mit einer alten Geschichte an. Als der Physiker Wolfgang Pauli (1900-1958, Nobelpreis 1945) sich in den 1930er Jahren die Daten zum Betazerfall anschaute und bemerkte, dass bei den Messungen etwas Energie zu fehlen schien, schlug er vor, diese Lücke durch ein Teilchen zu schließen, das nach einiger Sprachverwirrung heute als Neutrino bekannt ist (wobei man genauer von einem Anti-Neutrino sprechen müsste, aber lieber nicht). Solch ein Neutrino ist heute “ein Nichts, das sich dreht”, was Pauli ahnte, weshalb er nicht daran glaubte, man könne jemals die reale Existenz seines winzigen Gedankenkindes nachweisen. Er wettete eine Kiste Champagner, die er schließlich verlor, als andere Physiker in den 1950er Jahren fündig wurden und das Neutrino – das kleine Neutrale – in den elementaren Teilchenzoo einreihten.

Die Geschichte lässt erkennen, dass Gewissheiten nicht unbedingt an experimentellen Nachweise gebunden sind, und vielfach weckt die Physik das größte Interesse, wenn sie von Dingen handelt, die mehr einer phantastischen als einer realen Welt zuzuordnen sind. Der Experte solch einer “komischen (nicht kosmischen) Physik” ist der Brite Stephen Hawking, der gerne über physikalische Größen räsoniert, die sich mit keinem Apparat einfangen lassen, und mir will scheinen, dass seine Popularität dadurch immer weiter wächst und leicht erklärbar ist.

Doch so ganz ohne Gegenwehr wollen die Physiker ihre experimentelle Leine nicht loslassen, und so haben sich einige Vertreter dieses Fachs darüber geärgert, dass die sogenannten String-Theoretiker – also die Kollegen, die Elementarteilchen als unendlich dünne Strings (Saiten) behandeln und in mehr Dimensionen herumrasen lassen, als der liebe Gott den Menschen im Alltag zugewiesen hat – sich immer weiter von den traditionellen Denkformen jeder Wissenschaft entfernen. Sie kümmert der Vorwurf nicht, dass eine Hypothese nur dann wissenschaftlich genannt werden kann, wenn es ein Experiment gibt, mit dem sie sich falsifizieren (widerlegen) lässt. Die Idee stammt von Karl Popper, und viele Forscher denken, dass Popper damit erfasst hat, wie Wissenschaft weiterkommt – nämlich durch das Falsifizieren von Hypothesen und deren Ersetzung.

Der Autor dieser Zeilen hält diesen Gedanke für naiv und historisch widerlegbar – Poppers Falsifikation kann selbst falsifiziert werden -, aber darum soll es hier nicht gehen. Hier soll erwähnt werden, dass sich einige Physiker über die Saiten-Theoretiker geärgert und sie zu einer Debatte eingeladen haben. Sie fand im Dezember 2015 in München statt, und an ihr haben theoretische und experimentelle Physiker, Philosophen und Wissenschaftshistoriker teilgenommen.  Von Vertretern dieser Disziplin war zu hören, dass es in der Vergangenheit ständig Forderungen nach neuen wissenschaftlichen Methoden gegeben hat, ohne dass die sich jemals in empirischen Tests bewährt hätten. Abgesehen davon seien die String-Theorien nur ein winziger Ausschnitt von dem, was in der Physik passiert, und damit nicht der Aufregung wert.

Das Münchner Treffen ist ohne Annährung der Standpunkte zu Ende gegangen, wobei man das Treffen als Versuch oder Experiment bewerten und charakterisieren kann. Mit seiner Hilfe sollte versucht werden, die Idee zu falsifizieren, dass sich Wissenschaftler nicht einig werden können, wenn die Daten auf dem Tisch liegen. Leider wurde diese Idee verifiziert. Wenn Popper recht hat, stecken wir jetzt fest und müssen mit der alten Hypothese leben. Hat jemand einen Vorschlag für ein besseres Experiment, um sie zu testen?


Dieser Beitrag wurde auch auf ScienceBlogs veröffentlicht.

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